Von Nils Berger, veröffentlicht in e-media, Ausgabe April 2019, vollständiger Artikel hier
Bei Datenbrillen liegen Euphorie und Enttäuschung aktuell noch nah beieinander. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis die futuristischen Brillen Einzug in unseren Alltag halten.
„Es gibt aktuell kein Produkt auf dem Markt, das überzeugendere Funktionalitäten bietet als ein zweidimensionaler Bildschirm“, urteilte das US-Magazin „Vice“ im vergangenen Jahr über Datenbrillen. Und das Insiderblatt „InformationWeek“ legte nach: „Mixed Reality ist am Ende.“ Von diesen Urteilen unbeeindruckt zeigten auf der diesjährigen Consumer Electronics Show in Las Vegas viele Startups neue Augmented- & Mixed-Reality Modelle. Auch Branchen-Multi Microsoft konnte vor wenigen Wochen mit der neuen HoloLens 2 Eindruck machen.
Zudem bescheinigen Analysten smarten Brillen ein enormes Marktpotenzial. So sollen Jahresumsätze mit Augmented- & Mixed Reality in den kommenden fünf Jahren um mehr als das Zwanzigfache auf bis zu 75 Milliarden US-Dollar wachsen. Folglich ist es also nur eine Frage der Zeit, bis neben Microsoft und Google auch Apple und Facebook – die ebenfalls in MR-Technologie investieren – eigene Datenbrillen vorstellen.
SMARTE BRILLEN WERDEN DAS SMARTPHONE ABLÖSEN
Ich bin davon überzeugt, dass wir in naher Zukunft die digitale Welt auf der Nase tragen werden, anstatt ständig auf unser Smartphone herabzusehen. Ob Smart Glasses nun das Heilmittel gegen den digitalen Dauerstress durch das Smartphone sind, ist fraglich. Aber
Fakt ist: Das Smartphone bringt uns immer wieder zum Wegsehen – Studien zufolge bis zu 200 Mal am Tag. Es holt uns aus der realen Welt heraus und beschränkt unsere Handlungsabläufe. So gibt es zum Beispiel in Südkorea Verkehrsschilder, welche die Autofahrer vor abgelenkten Smartphone-Nutzern warnen. Und in London schützen Bodenampeln die Nutzer vor Verkehrsunfällen. Unter einer immersiven Benutzererfahrung stelle ich mir etwas anderes vor.
Meine persönliche Prognose lautet: In fünf Jahren werden Datenbrillen allmählich das Smartphone ablösen, in zehn Jahren haben sie es fast vollständig ersetzt. Datenbrillen sind auch sozial akzeptiert und haben den Konsumentenmarkt erobert.
Das erscheint Ihnen unrealistisch, kaum vorstellbar? Nun, wer hätte vor rund zwölf Jahren bei der Vorstellung des ersten iPhones gedacht, wie sehr Smartphones heute unser Leben bestimmt und was wir alles darüber abwickeln.
UNTERNEHMEN SETZEN AUF MIXED REALITY
Aller Voraussicht nach werden Smart Glasses einen ähnlichen Akzeptanzverlauf nehmen wie Computer: Die Großrechner aus den frühen Tagen des Computings waren extrem teuer und wurden ausschließlich von Unternehmen genutzt. Als sich die Technologie weiterentwickelte und sich vor allem die Kosten damit einhergehend ständig reduzierten, wurden Computer immer allgegenwärtiger am Arbeitsplatz. Die PC-Revolution führte schließlich dazu, dass PCs in die Haushalte Einzug hielten.
Auch der Weg der Smart Glasses geht über die Unternehmen, wo gefühlt hohe Preise nicht abschrecken und eng definierte Anwendungsfälle ein Vor- und kein Nachteil sind. Zahlreiche Firmen setzen die Brillen erfolgreich ein und verbessern damit u.a. ihre Wettbewerbsfähigkeit. Einem Service-Techniker kann zum Beispiel das Wartungshandbuch für eine Maschine ins Sichtfeld eingeblendet werden, während er beide Hände für die Arbeit frei hat und sich live im Video- und Audiostream mit Experten an anderen Standorten berät.
Die Erfahrungen, die tausende Industriebetriebe zurzeit mit Smart Glasses sammeln, fließen in die Entwicklung von tragbaren, funktionalen und erschwinglichen MR-Modellen ein, die dann zukünftig auch für die Straße und nicht nur für die Produktionshalle gedacht sind.
DIE TECHNOLOGISCHEN HÜRDEN SIND LÖSBAR
Die vier größten technischen Herausforderungen, die dem Erfolg der Datenbrillen bei Konsumenten aktuell im Weg stehen, sollten innerhalb der nächsten fünf Jahre gelöst sein:
Im Bereich der Konnektivität ist 5G großflächig verfügbar und ermöglicht die notwendigen Up- und Downloadraten für das Echtzeit-Verarbeiten der Daten in der MR-Cloud.
Schon die nächste Generation der Chipsätze wird eine massiv höhere Rechenleistung in miniaturisierter Form bei deutlich geringerem Stromverbrauch bieten – die Brillen werden immer leistungsfähiger.
Der Kontrast der Displays wird bald realen Lichtbedingungen gewachsen sein und funktionale MR-Anwendungen in der Praxis ermöglichen, was letztendlich den Weg für die Akzeptanz bei Anwendern ebnet.
Die Batterien bieten eine Lebensdauer von 24 Stunden für MR-Systeme und sind so klein, dass sie sich dezent in den Brillenrahmen einbauen lassen. Alle Funktionen sind in die Brille integriert, wodurch das zusätzliche Anschließen eines Smartphones oder eines externen Mini-Computers entfällt.
TREND: MIXED REALITY LIGHT
Statt klobiger „Gesichtscomputer“ werden wir also relativ bald kleine, leichte und trotzdem voll leistungsfähige Smart Glasses bauen können. Schon jetzt gibt es den Trend zur „Mixed Reality light“: Dezente, fast wie eine normale Brille aussehende Geräte, deren Funktionen sich auf die gängigsten Smartphone-Features beschränken. Auch wenn dies von den technischen Möglichkeiten her sicherlich noch nicht der ultimative Datenbrillentraum ist, so geht der Trend zur technisch schlanken, aber nutzerfreundlichen Datenbrille absolut in die richtige Richtung. Denn Technologie ist kein Selbstzweck – sie ist für den Menschen da.
Nutzerfreundlichkeit sollte im Übrigen auch die Prämisse für Display-Inhalte sein. Derzeit, so viel wissen wir aus Eye-Tracking-Studien, ist kein Mensch im Alltag bereit für flirrende Mixed-Reality-Erlebnisse, wie es der vielbeachtete Kurzfilm „Hyper-Reality“ des Künstlers Keiichi Matsuda zeigt: ein (Horror-)Szenario, in dem jede physische Oberfläche mit holografischen Inhalten überlagert ist.
INTUITIVE INTERAKTION ZWISCHEN MENSCH UND MASCHINE
Stichwort Nutzererlebnis: Welche Informationen sind überhaupt wann für den jeweiligen Träger wichtig? Den Informationsbedarf des Nutzers individuell zu erkennen, das wird die große Herausforderung für die Zukunft.
Noch muss Datenbrillen stets aktiv mittgeteilt werden, was man von ihr möchte. Die Kommunikation der Zukunft muss jedoch smarter und intuitiver werden. Einfach ausgedrückt: Die Smart Glasses der Zukunft bieten uns die richtige Information zur richtigen Zeit auf uns zugeschnitten an. Möglich macht dies die Echtzeit-Verknüpfung von Augenbewegungen als wichtigstem Sensor, individuellen biometrischen Informationen und Machine Learning.
DATENSCHUTZ UND TECHNISCHE INNOVATION VEREINBAREN
Schöne neue Welt? Ich bin der Meinung: Ja. Bald. Und zwar dann, wenn wir mit der Vielzahl an gesammelten Daten und Informationen verantwortungsvoll umgehen. Am Arbeitsplatz ist es noch relativ einfach, mit dem Datenschutz-Beauftragten oder dem Betriebsrat eine Regelung zu finden, welche den Einsatz von Smart Glasses erlaubt.
Anders schaut es bei Konsumenten aus. Per se bin ich der Ansicht, dass Daten dem gehören sollten, der sie generiert. Jeder User entscheidet für sich, wem er sie zur Verfügung stellt. Die „Glassholes“-Episode aus dem Silicon Valley hat uns aber gelehrt, dass Menschen auf unbewusstes Gefilmt Werden – zurecht – allergisch reagieren.
An dieser Stelle muss definitiv noch über neue Datenschutzregelungen nachgedacht werden – zum Beispiel die Echtzeit-Verpixelung von Gesichtern. Aber bitte, ohne dabei in der leider typisch europäischen Manier gleich sämtliche technologische Innovationen zu blockieren. Denn: Das oben Skizzierte wird passieren. Die Frage ist nur, ob wir in Europa an der Spitze dabei sein werden. Lassen wir uns nicht wieder, wie beim autonomen Fahren, den Rang ablaufen, indem wir überbordende Regelungen vor den unausweichlichen Innovationen priorisieren.