WIE FEHLSICHTIGKEIT UND SOGAR MONOKULARES SEHEN BERÜCKSICHTIGT WERDEN KÖNNEN
Von Alejandro Hernán Gloriani, R&D Senior Developer
Viele Menschen benötigen eine Sehhilfe: In Europa trägt nach Angaben des European Council of Optometry and Optics mehr als die Hälfte der Menschen (55 Prozent) eine Brille, und etwa 9 Prozent tragen Kontaktlinsen.i Der Vision Council of America ermittelte, dass im Jahr 2018 etwa 164 Millionen Erwachsene in den USA ständig oder gelegentlich eine Brille trugen – 65 Prozent aller Erwachsenen in den USA.ii
Insbesondere das Arbeiten vor dem Bildschirm und das Lesen auf dem Smartphone belasten wissenschaftlichen Annahmen zufolge unsere Augen und tragen zur Kurzsichtigkeit (Myopie) bei. Da wir immer mehr Zeit vor Bildschirmen und Smartphones verbringen, prognostizieren Wissenschaftler eine drastische Zunahme der Kurzsichtigkeit: Bis zum Jahr 2050, so die Annahme, wird jeder Zweite weltweit, etwa 4,8 Milliarden Menschen, kurzsichtig sein. Vor zwanzig Jahren war es noch nicht einmal jeder Vierte (1,4 Milliarden Menschen). Den Wissenschaftlern zufolge ist die größte Zunahme an Kurzsichtigkeit unter jungen Menschen in Ostasien zu verzeichnen.iii
Angesichts dieser Zahlen stellt sich die Frage, ob die vielen Menschen, die auf eine Sehhilfe angewiesen sind, Eye Tracking überhaupt anwenden können. Und wie ist die Situation im Falle von Sehbehinderungen, die nicht durch eine Sehhilfe normalisiert werden können, wie z.B. dem Verlust der Sehkraft auf einem Auge?iv Wir haben die wichtigsten Informationen zum Thema Eye Tracking trotz Sehschwäche zusammengestellt.
GENAUE BLICKVERFOLGUNG AUCH MIT SEHHILFE
Um optimale Ergebnisse zu erzielen, erfordert kamerabasiertes Eye Tracking einen „freien Weg“, d. h. möglichst keine Barrieren zwischen dem Sensor und den Augen. Gleichzeitig sollte der Nutzer die bestmögliche Sehschärfe haben, und das bedeutet für viele Menschen eine Korrektur entweder durch Kontaktlinsen oder eine Brille. Wie lässt sich dieser Konflikt lösen?
Der erste Schritt besteht darin, die Anforderungen an die Datenqualität entsprechend dem Verwendungszweck der Eye-Tracking-Daten klar zu definieren. Für Forschungszwecke ist die übliche Strategie, mit gesunden Augen zu arbeiten, starkes Augen-Make-up wie Mascara und Schlupflider zu vermeiden. Abgesehen von diesen gemeinsamen Grundsätzen haben Desktop-basierte Eye Tracking-Systeme und mobile Eye Tracking-Brillen unterschiedliche Anforderungen.
Um eine höhere Genauigkeit zu erreichen, erfassen Desktop Eye Tracker in der Regel nicht nur die Pupille, sondern auch die Reflexionen in der Hornhaut. Wenn sich das Tragen einer Brille nicht vermeiden lässt, ist es wichtig, saubere Brillengläser ohne Kratzer zu verwenden, vorzugsweise keine Zweistärkengläser und ohne infrarotblockierende Beschichtung (die meisten Eye Tracker verwenden Infrarotlicht), um Interferenzen zu minimieren und die Erkennung von Hornhautreflexionen zu ermöglichen. Eine Alternative in diesem Szenario sind Kontaktlinsen. Mit ihnen werden unerwünschte Reflexionen und Blockierungseffekte vermieden.
Bei den Eye Tracking-Brillen bieten einige Korrekturgläser, die leicht ausgetauscht und an den jeweiligen Benutzer angepasst werden können. Da die Augenkameras im Rahmen hinter den Korrekturgläsern angebracht sind, ist der Weg zwischen den Augen und den Kameras klar und kurz, und die Erkennung wird nicht durch Reflexionseffekte an den Gläsern oder andere Hindernisse beeinträchtigt.
Kontaktlinsenträger können ihre gewohnten Linsen unter der Eye-Tracking-Brille einfach weitertragen. Zu bevorzugen sind weiche, flexible Kontaktlinsen, die beim Blinzeln nicht verrutschen und keine trockenen Augen verursachen, was die Genauigkeit des Eye Trackings beeinträchtigen kann. Kontaktlinsen können die Genauigkeit des Eye Trackings allerdings leicht stören, da sie die Form der Hornhaut verändern.
Für alle, die mobiles, flexibles und dennoch präzises Eye Tracking benötigen, sind Eye-Tracking-Brillen mit austauschbaren Korrekturgläsern die ideale Lösung.
Abb. 1: Dank optischer Schnellwechselgläser in verschiedenen Sehstärken lässt sich die VPS 19 Eye Tracking Brille an die individuellen Bedürfnisse des Trägers anpassen. Die Gläser sind auch als Gleitsichtgläser erhältlich
BESTIMMTE SITUATIONEN ODER BEEINTRÄCHTIGUNGEN ERFORDERN EINSEITIGES EYE TRACKING
Kürzlich wurde uns die Frage gestellt, ob der Verlust der Sehkraft eines Auges die Verwendung von Eye Tracking ausschließt. Außerdem führt die zunehmende Verwendung von Eye Tracking-Brillen außerhalb der Forschung zu immer mehr Szenarien, in denen es notwendig oder empfehlenswert sein kann, nur ein Auge zu tracken.
Beeinträchtigungen wie eine sehr geringe Sehschärfe auf einem Auge, der Verlust eines Auges, Cataract (Grauer Star) auf einem Auge, Strabismus (Schielen), Amblyopie (Schwachsichtigkeit) oder unterschiedlich große Pupillen (Anisokorie, übrigens eines der Markenzeichen von David Bowie) werfen die Frage auf, ob Eye Tracking in diesen Fällen möglich ist.
Bei einer Verengung der Pupille (anormale Miosis; Pupillengröße von 2 mm oder weniger), bei Nystagmus (umgangssprachlich „Augenzittern“), bei Verkrampfungen der Augenlidmuskeln (Blepharospasmus) oder bei einer anormalen Pupillenform ist die Durchführung von Eye Tracking in der Tat sehr schwierig.
Für viele andere Arten von Beeinträchtigungen gibt es jedoch eine Lösung: Die VPS 19 Eye Tracking-Brille kann mit nur einem funktionalen Auge kalibriert und benutzt werden, wenn die neueste Software verwendet wird. Der Benutzer erhält auch beim einseitigen Eye Tracking Daten mit guterv Genauigkeit und Präzision. Je nach Benutzer und Tracking-Bedingungen können die Genauigkeit (die Abweichung vom eigentlichen Blickpunkt) und die Präzision (die Streuung der Blickpunkte) jedoch variieren.vi
Das Benutzen der VPS 19 mit nur einem funktionalen, kalibrierten Auge ist möglich, weil jedes Auge unabhängig getrackt wird und die monokularen Daten erst im letzten Schritt des Eye Tracking-Algorithmus zusammengeführt werden. Durch das Design der Blickzusammenführung wird die Blickrichtung auch dann mit ausreichender Genauigkeit gemessen, wenn im Falle eines Standard-Trackings beider Augen eines der beiden Augen vorübergehend nicht erkannt wird. Dies erhöht die Möglichkeiten, unser System auch außerhalb optimaler Bedingungen zu nutzen, und bietet ein äußerst robustes Eye Tracking für Remote Support, Schulungen und Dokumentation, aber auch für Forschungszwecke, bei denen ein ausdrückliches Interesse am Tracken von nur einem Auge besteht.
Abb. 2: Bildschirm der Smart Unit der VPS 19 während der Kalibrierung mit nur einem Auge. Die einseitige Kalibrierung funktioniert auch im Dunkeln bei schlechter Beleuchtung.
Diese Messungen bestätigen, wie genau und präzise die Eye Tracking-Daten der VPS 19 sind, selbst wenn nur ein Auge getrackt wird:
Abb. 3: Vergleich der Genauigkeitswerte des rechten Auges eines erfahrenen Benutzers, der beide Augen (binokulare Kalibrierung) bzw. nur ein Auge (monokulare Kalibrierung) getrackt hat. Die Messungen wurden unter den gleichen Lichtverhältnissen durchgeführt. Wenn nur ein Auge getrackt wurde, war das andere mit einer Augenklappe verdeckt. Das Kreuz steht jeweils für das Fixationsziel, während der Punkt den Mittelwert des angenommenen Blickpunkts darstellt. Die Genauigkeit wird durch die Differenz zwischen dem Kreuz und dem Punkt angegeben, während die Präzision durch die „Größe“ der Kovarianz-Ellipse (2D-Gauß, die 86% der Gesamtwahrscheinlichkeit der Blickpunkte umfasst) bestimmt wird.
FAZIT: Ob in der Forschung & Analyse oder in der Werkshalle eines Unternehmens, unsere Eye Tracking-Lösung kann auch von Menschen, die eine Sehhilfe benötigen, sowie bei bestimmten Sehbehinderungen und anderen Beeinträchtigungen der Augen eingesetzt werden. Wenn Sie sich im Zweifelsfall gerne an uns, um eine individuelle Beratung zu erhalten und mögliche Lösungen zu besprechen.
REFERENZEN
i Die Daten basieren auf folgender Untersuchung: European Council of Optometry and Optics. Blue Book 2020: Trends in optics and optometry – comparative European data. Adligenswil, Switzerland, p. 41 (2020). https://www.ecoo.info/wp-content/uploads/2020/10/ECOO-BlueBook-2020_website.pdf
ii The Vision Council. VisionWatch (2018). https://www.thevisioncouncil.org/sites/default/files/TVC_OrgOverview_sheet_0419.pdf
iii Holden BA, Fricke TR, Wilson DA, et al. Global Prevalence of Myopia and High Myopia and Temporal Trends from 2000 through 2050. Ophthalmology, Band 123, Ausgabe 5, S. 1036-1042 (Mai 2016).
iv Nach Angaben der WHO sind weltweit mindestens 2,2 Milliarden Menschen von einer Sehbehinderung betroffen. Quelle: World Health Organization. World report on vision. Geneva, p. XI (2019). www.who.int/publications-detail/world-report-on-vision
v Gesamtgenauigkeit und -präzision von etwa 0,75° bzw. 1,42° (durchschnittliche Genauigkeit und Präzision der fünf Kalibrierungsziele. In einigen Regionen konnte eine Genauigkeit von bis zu 0,34° erreicht werden, bei einer Präzision von 0,74°.
vi Anna Maria Feit, Shane Williams, Arturo Toledo, et al. Toward Everyday Gaze Input: Accuracy and Precision of Eye Tracking and Implications for Design. In Proceedings of the 2017 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems (CHI ’17). Association for Computing Machinery, New York, NY, USA, p. 1118–1130 (2017). https://doi.org/10.1145/3025453.3025599