Von Jana Riethausen
Das Auge ist weit mehr als nur ein Sinnesorgan – es ist ein einzigartiges Fenster zu unserem Inneren. Seine direkte Verbindung zum Gehirn eröffnet einzigartige Möglichkeiten, unser Verhalten und unsere mentale Leistungsfähigkeit zu entschlüsseln.
Stellen Sie sich vor, Sie können in Echtzeit erkennen, wie ermüdet oder kognitiv belastet ein Mitarbeitender bei der Durchführung eines kritischen Prozesses ist – und dadurch die Sicherheit deutlich erhöhen. Oder Sie können beobachten, wie schnell und sicher sich eine angehende Notfallsanitäter:in in einer akuten Notlage orientiert, um die Ausbildung gezielt zu verbessern.
Eye-Tracking-Technologien und moderne Analyseverfahren machen genau das möglich. Sie eröffnen völlig neue Perspektiven für die Verbesserung der Sicherheit in Bereichen wie Mobilität, Industrie und Rettungswesen.
Das Auge: Mehr als Sehen
Bis zu 80 Prozent unserer Wahrnehmung wird durch das Sehen vermittelt – unser Sehvermögen ist unser prägendster Sinn. Die Netzhaut (Retina) spielt dabei eine entscheidende Rolle, da sie eigentlich ein vorgeschalteter Teil des Gehirns ist. Das bedeutet, dass visuelle Reize unmittelbar im Gehirn verarbeitet werden.
Dadurch wird das Auge zu einem integralen Teil des Nervensystems, das nicht nur äußere Eindrücke vermittelt, sondern auch tiefergehende Informationen über unsere Aufmerksamkeit und mentale Verfassung preisgibt.
Verhalten verstehen, Aufmerksamkeit optimieren: Eye Tracking im Einsatz
Wie viel können unsere Augen tatsächlich über uns verraten? Mit Eye Tracking ist es möglich, die Bewegungen und Fixationen der Augen präzise zu erfassen – sogar mobil und in Bewegung dank robuster Eye-Tracking-Brillen. Die dabei gewonnenen Daten eröffnen eine beeindruckende Bandbreite an Erkenntnissen:
1. Aufmerksamkeit und Fokus
Welche Elemente ziehen den Blick an? Eye Tracking zeigt punktgenau, worauf Menschen in einer bestimmten Situation ihre Aufmerksamkeit richten. Besonders aussagekräftig sind sogenannte Fixationen – die Momente, in denen die Augen auf einen Punkt verharren, um Informationen aufzunehmen. Die Dauer und Häufigkeit dieser Fixationen geben Aufschluss darüber, welche Bereiche als besonders relevant wahrgenommen werden. Heatmaps visualisieren dies anschaulich und machen die Verteilung der Aufmerksamkeit sichtbar.
In sicherheitskritischen Umgebungen wie der Luftfahrt oder dem Schienenverkehr hilft Eye Tracking zu prüfen, ob sich der Blick auf entscheidende Anzeigen und Bereiche richtet. Oder haben Sie sich gefragt, ob Auszubildende bei komplexen Aufgaben ihre Aufmerksamkeit wirklich auf die wichtigen Elemente lenken? Abweichende oder “zerstreute” Blickmuster können auf Überforderung hinweisen – und damit gezielte Verbesserungen im Training ermöglichen.
2. Stress und Müdigkeit
Wie reagieren unsere Augen auf Stress oder Erschöpfung? Unter Stress neigen Menschen zu unruhigen und weniger zielgerichteten Augenbewegungen. Müdigkeit zeigt sich hingegen in verlangsamten Blickbewegungen und längeren Fixationen, da die mentale Kapazität nachlässt. Häufige, längere Lidschläge können ein weiteres Zeichen von Erschöpfung sein.
In sicherheitskritischen Berufen und industriellen Umgebungen können diese Erkenntnisse genutzt werden, um Sicherheitsrisiken durch Überlastung oder Erschöpfung zu vermeiden. Eye Tracking macht es möglich, Stress- und Ermüdungszustände frühzeitig zu erkennen.
3. Kognitive Belastung
Wie stark beansprucht eine Aufgabe das Gehirn? Veränderungen in den Augenbewegungen liefern wichtige Einblicke. Untersuchungen zeigen, dass geistig anspruchsvolle Aufgaben, wie z. B. mathematische Berechnung, eine Vergrößerung der Pupillen bewirken können. Längere Fixationen auf einen bestimmten Punkt können darauf hinweisen, dass eine Person mehr mentale Ressourcen benötigt, um Informationen zu verarbeiten. Ebenso kann eine hohe Anzahl von Fixationen in einem Bereich ein Zeichen dafür sein, dass die Verarbeitung komplexer oder herausfordernder ist.
Auch die Blickpfade (Sakkaden) liefern Hinweise: Während bei geringer kognitiver Belastung die Augen klare, zielgerichtete Muster zeigen, deutet ein chaotisches Hin- und Herwandern zwischen verschiedenen Bereichen häufig auf Überforderung hin.
4. Emotionale Reaktionen
Wussten Sie, dass Ihre Pupillen Emotionen verraten? Bei emotionaler Erregung – sei es Freude, Begeisterung oder Stress – erweitern sich die Pupillen. Je stärker die emotionale Reaktion, desto ausgeprägter die Pupillenerweiterung. Auch das Blinzeln spiegelt emotionale Reaktionen wider: Nervosität oder Stress steigern die Blinzelrate, während tiefe Konzentration sie verringert.
Diese subtilen Veränderungen ermöglichen es, emotionale Reaktionen objektiv zu messen – beispielsweise um stressauslösende Momente zu identifizieren. So kann Eye Tracking dabei unterstützen, Arbeits- und Lernprozesse besser an individuelle Bedürfnisse anzupassen.
Steigerung menschlicher Leistungsfähigkeit durch Eye Tracking
Unsere Augen können weit mehr als nur sehen: Ihre Bewegungsmuster bieten einen direkten Einblick in menschliches Verhalten. Wann lässt die Aufmerksamkeit einer Person nach und wann ist sie überlastet? Das Verständnis dieser subtilen Hinweise ermöglicht es uns, die Sicherheit und Effizienz in komplexen Umgebungen und Situationen zu optimieren.
Da die Eye Tracking Technologie immer robuster wird, spielt sie eine immer größere Rolle im praktischen Einsatz bei der Verbesserung des Situationsbewusstseins und der Vermeidung von Fehlern. Durch ein besseres Verständnis dafür, wie Menschen mit ihrer Umgebung interagieren, können wir sicherere und effizientere Arbeitsumgebungen schaffen und die Art und Weise neu definieren, wie wir Menschen in kritischen Rollen schulen und unterstützen.
INSIDE EYE TRACKING: VIER FRAGEN AN ALEJANDRO GLORIANI, R&D SENIOR DEVELOPER AT VIEWPOINTSYSTEM
REDAKTION: Alejandro, warum verraten unsere Augen so viel über unseren geistigen und körperlichen Zustand?
Alejandro Gloriani: Um dies zu erklären, müssen wir zwischen Empfinden und Wahrnehmen unterscheiden. Empfinden bezieht sich auf den Prozess, der in den verschiedenen Sinnesorganen stattfindet, zum Beispiel nimmt die Retina Licht wahr und sendet diese Informationen an das Gehirn.
Wahrnehmung hingegen ist die Verarbeitung dieser Informationen durch das Gehirn, und hier manifestieren sich die Auswirkungen unseres mentalen Zustands. Es ist, als hätte unser Computer viele schwere Prozesse gleichzeitig am Laufen – egal wie viel Speicher und Leistung er hat, wenn wir ihn überlasten, werden wir die Effekte dieser Überlastung sehen, z.B. läuft die Verarbeitung langsamer oder der Computer stürzt ab.
Ähnliches passiert in unserem Gehirn. Das Besondere am visuellen System ist, dass es im Gegensatz zu anderen Sinnesmodalitäten Echtzeit-Feedback über den Zustand des Nervensystems geben kann.
Warum bewegen wir überhaupt unsere Augen? Und welche Arten von Augenbewegungen gibt es?
Unsere Netzhaut hat einen Bereich mit höherer Auflösung hat, der Fovea genannt wird. Wenn wir etwas in unserem erweiterten, peripheren Sichtfeld wahrnehmen oder uns für etwas interessieren, bewegen wir in der Regel unsere Augen, um es mit unserer Fovea in hoher Auflösung scharf sehen zu können.
Unsere Augen sind fast immer in Bewegung. Selbst wenn wir uns auf etwas fokussieren, führen sie sehr kleine Bewegungen aus, die wir nicht wahrnehmen. Es gibt verschiedene Arten von Augenbewegungen, die in drei Kategorien unterteilt werden können: blickverlagernde Augenbewegungen, blickstabilisierende Augenbewegungen und fixierende Augenbewegungen.
Welche Arten von Augenbewegungen sind besonders aufschlussreich?
Zwei Typen von Augenbewegungen, die sehr wertvolle Informationen liefern, sind Sakkaden (aus der Kategorie der blickverlagernden Augenbewegungen) und Fixationen. Durch die kombinierte Untersuchung dieser beiden können viele Informationen über die Aufmerksamkeit und den kognitiven Zustand einer Person gewonnen werden.
Fixationen zeigen, welche Elemente aus der Umgebung als relevant wahrgenommen werden, während Sakkaden zeigen, wie eine Person Informationen scannt und verarbeitet. Beispielsweise signalisieren lange und häufige Fixationen oft eine kognitive Anstrengung, während unregelmäßige oder sprunghafte Sakkaden auf Stress oder Überlastung hindeuten können. Dies macht sie besonders nützlich in Anwendungsbereichen wie Trainingssimulationen, wo das Verfolgung von Aufmerksamkeitsverlagerungen dazu beitragen kann, das Lernen und die Entscheidungsfindung zu optimieren.
Worauf sollte man bei der Aufzeichnung von Augenbewegungen achten?
Das Wichtigste ist, Rohdaten von höchstmöglicher Qualität zu erhalten, da sonst die Ergebnisse der nachfolgenden Analyse nicht zuverlässig sind. Generell, aber insbesondere bei Sehbehinderungen oder Abweichungen der Augen, empfiehlt sich eine individuelle Benutzerkalibrierung. Dies ist ein einfacher, aber entscheidender Schritt, um eine optimale Datenqualität zu erzielen.
AUSGEWÄHLTE LITERATUR
- Shannon P. Devlin, Noelle L. Brown, Sabrina Drollinger, et al. Scan-based eye tracking measures are predictive of workload transition performance. Applied Ergonomics 105 (2022).
- Erdinç İşbilir et al. Towards a Multimodal Model of Cognitive Workload Through Synchronous Optical Brain Imaging and Eye Tracking Measures. Frontiers in Human Neuroscience (October 2022).
- Andrew T. Duchowski, Krzysztof Krejtz, Nina A. Gehrer, et al. The Low/High Index of Pupillary Activity 2020. Association of Computing Machinery (2020).
- Hao Wu, Jinghao Feng, Xuejin Tian et al. EMO: Real-Time Emotion Recognition from Single-Eye Images for Resource-Constrained Eyewear Devices. Association of Computing Machinery (2020).
- Steven Hickson, Nick Dufour, Avneesh Sud et al. Eyemotion: Classifying facial expressions in VR using eye-tracking cameras. IEEE Winter Conference on Applications of Computer Vision (2019).
- Soha Rostaminia, Addison Mayberry, Deepak Ganesan et al. iLid: Low-power Sensing of Fatigue and Drowsiness Measures on a Computational Eyeglass. ACM on Interactive, Mobile, Wearable and Ubiquitous Technologies, Vol. 1, No. 2, Article 23 (June 2017).
HÖRTIPP: Podcast mit Prof. Dr. Matthias Bolz über Innovationen in der Augenheilkunde