Von Jana Riethausen, Viewpointsystem Redaktionsteam
Wir verlangen immer mehr Rechenleistung von unseren Geräten, doch herkömmliche Computerarchitekturen stoßen zunehmend an ihre physikalischen Grenzen. Auf der Suche nach neuen Wegen, die Rechenleistung weiter zu steigern, lassen sich Forscher und Chipdesigner von der Art und Weise inspirieren, wie das Gehirn Informationen verarbeitet. So auch das EU-geförderte Forschungsprojekt „NimbleAI“: Viewpointsystem und 18 weitere Partner aus ganz Europa entwickeln einen neuromorphen „Super-Chip“, der bei geringem Energieverbrauch extrem leistungsfähig sein soll. Wie funktioniert er? Und wie können neuromorphe Chips industrielle Bereiche wie Robotik, autonome Fahrzeuge, Smart Glasses sowie die medizinische Diagnostik revolutionieren?
Was kommt nach Moore? Diese Frage beschäftigt Forscher und Technologieunternehmen gleichermaßen. Das „Mooresche Gesetz“, benannt nach dem Chemiker, Physiker und Intel- Mitgründer Gordon Moore, beschreibt seit Beginn des Computerzeitalters beeindruckend genau, wie sich die Anzahl der in einen Chip integrierten Bauelemente alle ein bis zwei Jahre verdoppelt. Fünfzig Jahre lang wurden die Computerchips dabei stetig kleiner, günstiger und leistungsfähiger. Jedoch stoßen wir nun langsam, aber sicher an harte physikalische Grenzen, wenn es um die dafür notwendige Verkleinerung der Bauteile geht.
Dabei hält die Natur die perfekte Lösung für mehr Leistungsfähigkeit bereit: das Gehirn. Im Laufe von Millionen Jahren Evolution hat es eine enorme Effizienz ausgebildet. Im Alltag kommt das Gehirn mit lediglich 25 Watt aus und erledigt Aufgaben, die jedes KI-System hoffnungslos überfordern. Es ist im Gegensatz zu konventionellen Computern äußert lern- und anpassungsfähig und findet sich intuitiv in einer unberechenbaren Umwelt zurecht.
Das Gehirn als Blaupause
Genau diese Funktionsweise des menschlichen Gehirns nehmen sich sogenannte neuromorphe Chips zum Vorbild. Sie besitzen hochgradig vernetzte künstliche Neuronen und Synapsen, die – genau wie die Neuronen und Synapsen im menschlichen Gehirn – Informationen gleichzeitig speichern und verarbeiten. Sie sind darum nicht nur schneller, sondern arbeiten, genau wie unser Gehirn, sehr energieeffizient.
Einer der Ansätze, die im Projekt NimbleAI verfolgt werden, sind sogenannte eventbasierte Kameras. Hierbei handelt es sich um Videosensoren, die nicht kontinuierlich alle Pixel abtasten und übertragen und damit sehr viele Daten transferieren, sondern stattdessen nur Änderungen im Bildverlauf übermitteln. Das ist etwas, was der natürlichen Selektion des menschlichen Auge-Gehirn-Systems sehr nahekommt.
„Es geht um das Erkennen, was sich vom letzten Bild auf das nächste verändert hat“, erklärt Frank Linsenmeier, CTO von Viewpointsystem. „Es fallen nur Daten in die Berechnung ein, die sich zum vorherigen Status verändert haben – ähnlich wie bei unserem Gehirn, das Änderungen eher wahrnimmt und die gleichbleibende Umgebung drumherum ausblendet. Das macht die Technologie so energieeffizient.“
Nutzen für die Industrie
Neuromorphe Chips haben das Potenzial, Zukunftstechnologien wie Augmented Reality oder mobile künstliche Intelligenz, z. B. in autonomen Fahrzeugen, erheblich voranzubringen. Durch ihre Fähigkeit, hochkomplexe Computer-Vision-Algorithmen (z. B. zur Objekterkennung und -verfolgung) mit geringem Energieverbrauch auf kleinstem Raum auszuführen, können neuromorphe Chips diese Technologien benutzerfreundlicher, kompakter und sicherer machen.
In der Smart Factory könnten neuromorphe Chips zur Optimierung der Bewegungsabläufe von Robotern sowie der Arbeitsabläufe insgesamt dienen. Durch ihre Fähigkeit, Muster und Zusammenhänge zu erkennen, können sie in der Bild- und Spracherkennung enorme Datenmengen schnell analysieren und relevante Informationen extrahieren.
“Von einfachen Sensoren zur Bewegungserkennung über Smart Glasses bis hin zu hochkomplexen Anwendungen im Automobilbereich gibt es tausende von Anwendungsmöglichkeiten im industriellen Bereich”, erklärt Frank Linsenmaier.
In der Medizin könnten neuromorphe Chips in Handheld-Geräte integriert werden, die aufgrund ihrer Fähigkeit zur informationseffizienten Datenverarbeitung Analysen an Ort und Stelle und schnellere Diagnosen ermöglichen. Ihre Tragbarkeit und Energieeffizienz machen neuromorphe Chips besonders wertvoll in ressourcenbeschränkten Umgebungen, wie Entwicklungsländern oder abgelegenen Gebieten mit begrenztem Zugang zu medizinischer Infrastruktur.
Neuromorphe Chips als Gamechanger: Das EU Forschungsprojekt „NimbleAI“
Beim EU-Forschungsprojekt “NimbleAI” wird in den kommenden 3 Jahren ein neuartiger neuromorpher Computerchip entwickelt. Neben Viewpointsystem sind 18 weitere Unternehmen und Forschungsinstitutionen aus acht EU-Ländern an dem Projekt beteiligt. Die Projektpartner von NimbleAI haben dabei ein Ziel vor Augen: Die Energieeffizienz im Vergleich mit herkömmlichen Chips soll um das Hundertfache verbessert werden. Die Latenzzeit – also die Zeit, die für die Kommunikation zwischen den einzelnen Chipkomponenten vergeht – soll wiederum um das Fünfzigfache abnehmen.
Viewpointsystem befasst sich im Rahmen des Projekts mit der Entwicklung von energieeffizienten, hochperformanten Eye-Tracking-Sensoren für Augmented- und Virtual-Reality-Anwendungen und entsprechende Geräte. Mit der zunehmenden Verbreitung von AR und VR wird Eye Tracking entscheidend für ein sicheres und angenehmes immersives Erlebnis und ermöglicht dynamisches Rendering, intuitive Mensch-Maschine-Interaktion, Gesundheitsüberwachung und andere Funktionen.
NimbleAI hat eine Förderung in Höhe von 10 Millionen Euro aus dem EU-Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon Europe und vom UK Research and Innovation (UKRI) im Rahmen der Finanzierungsgarantie der britischen Regierung für Horizon Europe erhalten. Das Projekt ist Teil der EU-Initiativen zur europäische Unabhängigkeit und Versorgungssicherheit bei Halbleitern.
Weitere Informationen: https://www.nimbleai.eu/